Jón Thor Gíslason

Das fremde Kind


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Einige Gedanken zu  den neuen Arbeiten von Jón Thor Gíslason

von Brigitte Splettstößer

Während seiner künstlerischen Ausbildung hat sich der isländische Künstler Jón Thor Gíslason intensiv mit Ende der 50er / Anfang der 60er Jahre entstandenen grenzüberschreitenden Kunstrichtungen wie der Konzeptkunst und dem von Beuys geschaffenen erweiterten Kunstbegriff auseinandergesetzt.
Trotz seiner Wertschätzung dieser künstlerischen Ansätze und der zugrundeliegenden Philosophie war ihm bald klar, dass sein Weg ein anderer war.
Seinem sich immer deutlicher entwickelnden Bekenntnis zur Malerei und insbesondere zur figurativen Malerei ist Jón Thor Gíslason bis heute treu geblieben. Er setzt den vorrangig durch ihr Konzept und ihre Idee bestimmten, im Grenzfall entmaterialisierten Werken des Minimalismus und der Konzeptkunst seine mit den Sinnen unmittelbar wahrzunehmende Malerei entgegen, eindrückliche, teilweise großformatige Malerei, die den Betrachter spontan gefangen nimmt, ihn anzieht und irritiert, ihn be-tört wie ver-stört.

Jón Thor Gíslason hat sich seit jeher viel mit Philosophie beschäftigt. Insbesondere findet er seine Kunstauffassung z. B. gespiegelt in den ästhetischen Theorien der Philosophen Gernot Böhme und Martin Seel, in denen die Atmosphäre, die von einem Kunstwerk ausgeht, und seine sinnliche Wirkung eine zentrale Rolle spielen.

Eine äußerst ambivalente Atmosphäre ist ein wesentliches Merkmal von Jón Thor Gíslasons Malerei, die geprägt ist von seinem virtuosen Umgang mit Farbe und Linie und vor allem vom unverwechselbaren Ausdruck der dargestellten Menschen. Viele seiner Bilder sind schön und schrecklich zugleich (wobei manchmal das Schöne, manchmal das Bedrückende überwiegt).

Vor einem meist ornamentalen, rhythmisch-gemusterten Hintergrund treten eine oder mehrere Figuren hervor, meist Frauen oder Kinder, oft mit einem zerbrechlich wirkenden Körperbau, manchmal mehr oder weniger nackt, manchmal in ebenfalls ornamental-gemusterter Kleidung, in unterschiedlichen Posen, manchmal ängstlich, skeptisch, bedrückt, manchmal still, fast erstarrt, manchmal aber auch in anmutiger Körperhaltung oder  in Bewegung. Selten sind die Figuren einander zugewandt, sind eher isoliert, wirken, selbst wenn sie Körperkontakt haben oder sich z. B. an den Händen halten, seltsam entfremdet voneinander als seien sie Elemente eines Figuren-Stilllebens.

Die Gesichter sind meistens weiß, die Augen geschlossen oder seltsam blicklos, manchmal schwarz verschattet. Die Haut bloßer Körperteile ist häufig grünlich-fahl, wird manchmal in starkem Kontrast von leuchtend roten Farbspuren überzogen, Farbspuren, die an Blut denken lassen, das sich in einigen Bildern aus dem geöffneten Mund zu ergießen scheint. So etwa bei dem großen Gemälde mit dem Titel „Das fremde Kind“ (Abb. S. 33).

Die Häupter der Figuren tragen manchmal fantasievolle Frisuren, oft sind sie aber kahl, erinnern an Fotos von Kindern, die eine Chemotherapie oder eine schlimme Krankheit durchlitten haben.
Die Bevorzugung von Frauen und Kindern als Bildmotive gründet vielleicht in der isländischen Mystik  und ihren weiblichen und elfenhaften Erscheinungen, vielleicht sieht Jón Thor Gíslason auch die besondere Gefährdung und Bedrohung von Frauen und Kindern, oder er bewundert einfach ihre Schönheit und Anmut, sieht in den Kindern als noch nicht festgelegten Menschen ihre vielfältigen Entwicklungsmöglichkeiten.

Jón Thor Gíslasons Bilder enthalten vielfach sehr gesellschaftskritische Momente, die dann aber doch in einigen Arbeiten eher in den Hintergrund treten oder ironisch gebrochen erscheinen.
In der Arbeit mit dem Titel „Gruß an Manet – le déjeuner sur l’herbe“ (Abb. S. 23) begegnet uns eine junge sehr wenig bekleidete Frau, flankiert von zwei in modische Anzüge gekleideten, überlegen lächelnden jungen Männern, eine auch heute etwa von Berichterstattungen über  Gala-Abende mit angesagten Stars hinlänglich bekannte Situation: eine Frau bewegt sich mit der erotischen Anziehungskraft ihres wenig bekleideten Körpers in Gesellschaft wichtigtuerischer und  äußerst konventionell gekleideter Herren. Jón Thor Gíslason bezieht sich in seiner Darstellung auf eine Ikone der Kunstgeschichte, Edouard Manets „Frühstück im Freien“, das selbst auf frühere Werke der Kunstgeschichte zurückgreift und im Nachhinein von verschiedenen Künstlern, u.a. Picasso, zitiert wurde – ein deutliches Zeichen für die Permanenz dieser Thematik.

Gíslasons zeichnerisches und grafisches Werk dokumentiert seinen meisterhaften Umgang mit der Linie. Die Linie, manchmal ganz zart, sich fast ins Nichts auflösend, manchmal stark, spontan mit Kraft auf das Papier aufgebracht, ist weit davon entfernt, nur Kontur zu sein. Sie modelliert und strukturiert, verleiht Bewegung und Ausdruck, verbirgt und verrätselt auch, löst sich oft vom Körper und gewinnt ein Eigenleben in der Bildfläche.
In die neue Malerei von Gislason sind zeichnerische Elemente vermehrt eingeflossen: Intensive, geradezu „wilde“ Linien führen oft zu einer dramatischen Wirkung, insbesondere bei der Arbeit „Das fremde Kind“ (Abb. S. 33)
Die Bilder von Jón Thor Gíslason werden manchmal in die Nähe der Malerei von Edvard Munch gerückt im Hinblick auf das „Insicheingesperrtsein“ und die Erstarrung der Figuren, auf das Unheimliche der Atmosphäre und die intensive Wirkung der Linien 1.

Auch die Farbpalette von Jón Thor Gíslason hat sich gewandelt. Ausgehend von einer geheimnisvoll dunklen Ölmalerei mit oft auch märchenhaft-mystischer Kulisse Anfang der 90er Jahre hat sich die Palette mehr und mehr aufgehellt bis hin zu einer durch den Einsatz von Neonfarben erzeugten, äußerst leuchtenden, manchmal bewusst grellen Farbigkeit. Zwar bevorzugt er weiterhin  helle Farbtöne, aber gegenüber früheren Arbeiten sind die Farben meist gedeckter, zurückgenommener, Neonfarben sind eher sparsam eingesetzt.

Der ornamentale Hintergrund bestimmt ganz wesentlich die Atmosphäre in Jón Thor Gíslasons Bildern. Haben in früheren Arbeiten oft unterschiedliche ornamentale Flächen den Bildhintergrund gegliedert, der dadurch insbesondere manchmal eine vertikale Zwei- oder Dreiteilung erfuhr, so weisen fast alle neuen Arbeiten einen einheitlichen Hintergrund auf, der keinerlei räumliche oder zeitliche Verortung zulässt. Die Figuren stehen vor einem abstrakten, künstlichen Hintergrund als befänden sie sich vielleicht auf einer Bühne. Sie wirken seltsam verloren, stehen auch nicht auf einem festen Untergrund, haben keine Bodenhaftung, scheinen manchmal  mit nach unten weisenden Fußspitzen gar zu schweben.
Gleichzeitig geht von der Ornamentik eine starke Sinnlichkeit aus, Ornamente haben ein hohes assoziatives Potential, Ornamente sind dekorativ bis hin zum Kitsch, dessen Rolle in unserem von Hochglanz – Ästhetik geprägten Alltag Gíslason vielfach reflektiert. In dem Bild „Das fremde Kind“ (Abb. S. 33) etwa ist die Leinwand überzogen mit silbernen und goldenen Schmetterlingen, Symbolen der Hoffnung, wie Gíslason sagt, durchkreuzt von vehementen Linien aus schwarzem Asphalt. Der Mensch zwischen Glück, Erfolg, Schönheit bzw. schönem Schein einerseits und Einsamkeit, Entfremdung, Lebens-Bedrohungen andererseits – das ist das zentrale Thema in Jón Thor Gíslasons Werk. Und diese existentielle Ambivalenz findet er wieder im Gedankengut der Romantik.

Seine Auseinandersetzung mit der Romantik kommt insbesondere zum Ausdruck in den Titeln, die er einigen seiner neueren Arbeiten gegeben hat.
Der Titel „Qualitative Potenzierung“ (Abb. S. 18/19) ist einem Kernsatz der romantischen Bewegung Ende des 18. Jahrhunderts entnommen, nämlich der Forderung des Dichters Novalis, die Welt zu romantisieren. Novalis schreibt: „Die Welt muss romantisiert werden. So findet man ihren ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung.“, und er fährt fort: “Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“2

Gíslasons Prägung durch die isländische Mystik und sein darauf beruhendes Interesse an der Psychologie der Märchen findet eine Entsprechung in der romantischen Sehnsucht nach dem Geheimnisvollen, das insbesondere in den romantischen Märchen Ausdruck fand. So bezieht sich z. B. der Titel „Das fremde Kind“ (Abb. S. 33) auf das gleichnamige Kunstmärchen von E.T.A. Hoffmann, in dem zwei Kinder im Wald einem fremden, feenhaften Kind begegnen, das allegorisch für die Natur steht. Jón Thor Gíslason sieht die Natur offenbar in einem leidvollen Zustand, der aber – so deuten die  Schmetterlinge im Hintergrund an – nicht ohne Hoffnung ist.

Die in der deutschen Gegenwart immer noch unauslöschlich präsente nationalsozialistische Vergangenheit, deren Gedankengut auf fatale Weise auch mit romantischen Ideen zusammenhängt, 3  thematisiert Gíslason in seinem Bild „Blue Eyes“ (Abb. S. 54/55). Vor einem Hintergrund, der an die Streifen der Lagerkleidung erinnert, haben zwei deutsche Kinder ein jüdisches Mädchen mit seiner Puppe in ihre Mitte genommen, dessen zukünftiges Schicksal durch die Totenköpfe am oberen Bildrand und durch die Aufschrift „Deutschland“ in überspitzten gotischen Lettern antizipiert wird.

Martin Seel schreibt: „In der Begegnung mit gelungenen Kunstwerken begegnen wir Gegenwarten des menschlichen Lebens. … Die in der ästhetischen Wahrnehmung aufscheinende Gegenwart ist nicht einfach eine temporäre Konstellation von Dingen und Ereignissen …“. Gegenwart meint eine „Lage inmitten weitreichender räumlicher, zeitlicher und sinnhafter Bezüge“.4

Solchen Gegenwarten begegnen wir sicherlich in Jón Thor Gíslasons Bildern mit außergewöhnlicher Intensität.