Jón Thor Gíslason

L’ART POUR L’ATMOSPHERE


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Stellungnahme zur Aufgabe der Kunst in der heutigen Gesellschaft

Alle Versuche, die Kunst ins Leben zu überführen, sind gescheitert. Was am Anfang des 20. Jahrhunderts anfing – Bürger der Gesellschaft in die Kunst mit einzubeziehen – hat am Ende des Jahrhunderts schließlich zur Abschaffung der Ästhetik durch einen erweiterten Kunstbegriff geführt. In den „wilden“ 60er und 70er Jahren erklärt der Europäische Pop- Aktions- und Konzeptkünstler Joseph Beuys, als bedeutendster Vertreter dieser Kunstpraxis, alle Menschen zu Künstlern. Alles ist Kunst. Die ganze Welt ist ein Kunstwerk, auch der ahnungslose Bürger ist ein Kunstwerk. Soziale Kreativität und Bewegung (Rhythmus) liegen in der geistigen Autonomisierung des Künstlers und führen auf diesem Wege zur Freiheit. Ästhetik ist unerwünscht, wird als traditionelles Hindernis betrachtet. Man versucht neue Ursachen zu setzen, die die alten ersetzen sollen. Individualismus, in dem jeder Mensch der Gesellschaft schöpferisch tätig sein soll, gibt der Bürgerlichen Revolution die Richtung. Aufgabe der Kunst soll es sein, eine perfekte Welt aufzubauen in der alle Menschen frei, in Gleichheit und Brüderlichkeit leben werden. Dieser Zauber, das Leben sozusagen über die Kunst zu stellen, soll sich durch einen erweiterten Kunstbegriff verwirklichen lassen. Es geht um die Verbalisierung der Kunst. Es hat sich aber gezeigt, dass die Kunst – trotz aller erweiterten Kunstbegriffe – sich weder mit dem Leben vereinen noch überwinden lässt. Der seit Kant überwiegende Glaube an Vernunft und Geist als etwas Höheres und Wichtigeres als Sinnlichkeit und Natur, hat uns unweigerlich durch die Umweltprobleme an die Lebenswichtigkeit unserer Leiblichkeit erinnert. Der Mensch kann nicht mehr widerstreben. Er muss in und mit der Natur leben. Goethe war schon damals der Meinung, dass es ein großer Unterschied ist, von welcher Seite man sich einem Wissen, einer Wissenschaft nähert, durch welche Pforte man hereinkommt. Aus dieser Perspektive wäre unsere jetzige Hoffnung, eine neue Pforte zu entdecken, die mit unseren aktuellen Erkenntnissen korrespondiert. Gernot Böhme, Professor für Philosophie in Darmstadt, hat möglicherweise schon diese Pforte entdeckt. Böhme nähert sich der Problematik nämlich nicht nur physikalisch-chemisch, sondern vor allem ästhetisch: „Die Aufgabe (ist), die Natur, die wir selbst sind, d. h. den menschlichen Leib, in unser Selbstbewusstsein zu integrieren“ (GB). Bemerkenswert ist, dass es Böhme nicht nur darum geht, einen Weg aus der Ökologischen Krise zu suchen; er weist auch darauf hin, wie wichtig es ist, dass die Menschen sich sinnenbewusst gegen die Massenkultur einsetzen. Es geht hier um die ästhetische Manipulation, die ausgeübt wird trotz der Ablehnung der Ästhetik in der Kunst (und vielleicht genau deshalb). In Zeiten der Aufklärung wurde die Ästhetik stets mehr primär mit der autonomen Kunst verbunden. Ein elitärer Wirkungskreis entschied, was Ästhetik ist und was nicht. Da dies hauptsächlich Sache des Intellekts und des Redens war, entfernte man sich allmählich von allem, was durch Sinnlichkeit und Befinden gewonnen werden kann. Schließlich, nach der Erfindung des erweiterten Kunstbegriffs, spricht man höchstens – wenn überhaupt – von einem erweiterten Ästhetikbegriff, der auf Denken und Urteilskraft basiert. Die 99% der Gesellschaft die wenig mit dieser unsichtbaren Ästhetik anfangen können, bleiben aber unwissend Opfer Ökonomischer Machtübernahme. Es handelt sich in diesem Falle nicht um die Politik, sondern eine ökonomische Ästhetik, Hochglanzkapitalismus: „Film und Fernsehen, die Allgegenwart von Musik, Vermischung von Information und Werbung, Inszenierung der Alltagswelt, etc., bestimmen unser Leben.“ (G.B.)
Außerdem hat die zentrale Stellung des Urteils in der Ästhetik zu einer Dominanz der Semiotik in der ästhetischen Theorie geführt. „Wir nehmen heute nicht einmal mehr Gegenstände wahr, sondern nur Signale.“ (G.B.) Die Sinnlichkeit und die Natur sind auf diesem Wege fast gänzlich aus der Ästhetik verschwunden. In der Ökologischen Naturästhetik Böhmes geht es um leiblich-sinnliche Erfahrungen, die ein Mensch macht, der sich in einem bestimmten Naturstück befindet, wohnt, arbeitet, bewegt. Da auch städtische Räume und schließlich sogar Innenräume letzten Endes angeeignete Natur sind, sind auch sie Subjekte der neuen Ästhetik. Böhmes Theorie ruft jeden Menschen und jeden Bereich der Gesellschaft zur Teilnahme auf (die Wissenschaft, die Wirtschaft, die Politik, die Mode, die Landschaftsgärtnerei, Design, Kosmetik etc. ). Jeder Mensch ist ein Ökologischer Naturästhetiker, der durch Atmosphären die Umwelt gestalten kann. Die Kunst ist hier keineswegs das wichtigste Phänomen, sondern der Raum in dem man sich befindet. „Die neue Ästhetik legt es nahe, den Intellektualismus der klassischen Ästhetik ebenso hinter sich zu lassen, wie seine Einschränkung auf Kommunikationsphänomene und Kunst“ (GB). Bei Versuchen der Avantgarde, Fluxus, Aktionskunst, Pop Art, Konzept Art etc. Die Kunst ins Leben zu überführen, war es vor allem die Aura, die dies nicht machbar machte. Gerade dadurch, dass ein „egal was“ zum Kunstwerk erklärt wurde bzw. wird, haben die Künstler es „auratisiert“. Das Wort Aura kommt aus dem Griechischem und hat mit „Luft“ und „atmen“ zu tun, damit dass man also etwas leiblich aufnimmt, genauso wie man Atmosphären durch den Leib erzeugt. Der Mensch braucht die Aura, die Atmosphären. Es schließt auch eine Rehabilitierung des Kitsches nicht aus. Im Gegenteil bekommt der „Kitsch“ unvermeidlich eine zentrale Bedeutung. Kitsch existiert in der heutigen Gesellschaft als Reste sinnlicher, kreativer Arbeit; das was uns übriggeblieben ist. Die Kunst (Malerei, Bildhauerei, Installationen, Technologische Kunst, etc.) behält aber die traditionelle Rolle als gesellschaftskritisches Werk, als Spiegelung der Gegenwart zu funktionieren, obwohl die Hauptaufgabe der Kunst, im Böhm’schen Sinne, d.h. der autonomen Kunst ist, dass der Künstler den Menschen die Sinnlichkeit zurückgibt, in einem handlungsentlasteten Raum (Museum, Ausstellungen, etc.).
Willkommen in den „heiligen Hallen der Atmosphären“!

Jón Thor Gíslason, Düsseldorf im Mai 2001